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Bise

Samstagnachmittag. Ich rechne nach dieser Woche mit einer heftigen Migräne und bin letztendlich erfreut, dass mein Kopf „nur“ schmerzt und der Mageninhalt drin bleibt. Mir bleibt genug Energie für meine Idee, das Wort Migräne bildlich einzufangen, mich fotografisch damit auseinanderzusetzen. Auf die Kamera kommt ein Teil aus der Wundertüte und ich gehe auf einen Spaziergang raus - soll ja gesund sein und gegen Kopfschmerzen helfen.

So richtig zwäg bin ich nicht, das merke ich am Schanzengraben. Unbemerkt von mir, wohl beim Free Hug vor der Pestalozziwiese, hat sich die Kamera an meiner Jacke verfangen und die automatische ETTR Regelung mal schnell +5 Blenden eingestellt. Die Bilder sind katastrophal überbelichtet - dabei wäre es mein Job, jeweils einen Blick auf die Sucheranzeige zu werfen. Für die Tonne? Oder richtige Kunst? Ich mag mich nicht entscheiden und besinne mich auf den Satz Ich bin der Künstler, ich darf das. 8-)

Sihltal

Von der Paradiesstrasse zur Militärstrasse, der Sihl entlang - ein langer Spaziergang, den ich an diesem wundervollen Frühlingstag unter die Füsse nehme. Drei Stunden, eine Batterie und eine Speicherkarte später bin ich mit einem ordentlichen Muskelkater am Ziel.

Die Sihl ist im Stadtgebiet gefürchtet, kanalisiert, verbaut, überbrückt und untertunnelt. Die alten Zürcher hausten an der Limmat, die Sihl war draussen vor der Stadtmauer, sorgte für Ueberschwemmungen, Krankheiten und unfruchtbares Sumpfland. Wer da lebte, war verloren. Ueber die Jahre wuchs die Stadt, Aussersihl wurde eingemeindet, die Industrie an ihrem Wasser Grundlange von grossem Wohlstand - der schlechte Ruf zieht sich bis ins heutige Langstrassenquartier. Die Bahn übernahm die gefährliche Flösserei aus dem stadteigenen Wald im Sihltal, das Flussbett wurde beim Vergraben der linksufrigen Seebahn verschoben, in den 60ern kam die Sihlhochstrasse als Zubringer für das geplante Ypsilon mitten in der Stadt. In den 80ern bekam die Sihltal- und Uetlibergbahn ein Tunell im Fluss, in den letzten 20 Jahren entstand das Autobahndreieck über der Allmend und der erste Teil des Zimmerberg Basistunnels. Kein Stein blieb auf dem anderen, die ehemalige Baustelle ist jetzt Staubecken für den gefürchteten Fall eines Bruches der Sihlsee Staumauer.

Das Sihltal habe ich in dunkler Erinnerung, einer der hässlichsten Flecken in Zürich. Wir waren nie gerne da, viel eher zog es uns an die Limmat und den See. Gleichzeitig verbinden mich Erinnerungen, die langen Spaziergänge von klein-Beat mit seinem Mami und den Hunden, die Besuche der Modellfliegernerds mit seinem Papi, ein Badenachmittag im eisigen und schmutzigbraunen Wasser, die endlose Baustelle, die mich über die ganze Zeit als Autopendler zwischen Obstalden und meinem Arbeitsplatz verband. Auch heute ist die Sihl und ihr Tal einer der hässlichsten Flecken der Stadt - auch wenn die Frühlingssonne alles gibt, um ihn einigermassen hübsch aussehen zu lassen.

Häuschen

Nicht alle meiner Bilder entstehen aus purem Spass - wenn ich schon die Kamera mit dabei habe, gibt es auch öfters Dokumentation. Ein Bild hilft oft, Sachverhalte zu vermitteln, die zu beschreiben nicht ganz so einfach sind. Diese Bilder zu machen helfen mir gleichzeitig, mich mit der Sache auseinanderzusetzen, sie aus den Augen eines Fremden zu sehen, ein bisschen Distanz zu gewinnen.

Ich will nach Hause. Dieser Satz, vielleicht ein bisschen trotzig geäussert, klingt in meinem Kopf nach. Nach erledigtem Tagewerk setze ich mich auf eine Bank über der Stadt, gucke in die blaue Stunde und sinniere darüber. Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen, kenne sie wie keine Zweite. Die Menschen hier sprechen meine Sprache, ich kenne die Usanzen und Gesetze. Aber Zuhause? Nein. Ich bin hier nicht zuhause, eher Gast auf meiner langen Reise durchs Leben. Das Gefühl von Zuhause ist mir fremd, es ist nicht hier, es ist nicht dort. Vielleicht verbinden mich angenehme Erlebnisse mit einem Ort, verwandte und bekannte Menschen, die Möglichkeit Geld zu verdienen und zu überleben, eine Portion sozialer Sicherheit. Aber Zuhause, Heimat - das ist überall und nirgends.

Vermutlich bekam ich einen kleinen Knacks als junger Teenie, als ich ins Gästezimmer umzog. Draussen zu sein wurde meine Welt, ich fand das erste mal in mir meine Mitte. Die letzten Jahre voller intensiver Reisen durch halb Europa taten das ihrige, mich in mir zuhause zu fühlen und nicht auf einen Ort angewiesen zu sein, den ich als Zuhause sehe, spüre. Egal wo ich bin, ich bin in mir und damit zuhause.

Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem ich nicht mehr gehen mag, nicht mehr für mich sorgen kann. Ich sehe mit guter Zuversicht diesem Tag entgegen - egal wo es sein mag, mit meiner Einstellung werde ich meinen Platz finden, mich von meinem bisherigen Leben und den damit verbundenen Orten lösen können. Statt einem trotzigen Ich will nach Hause werde ich mich freuen können, eine neue Station auf dem Weg meines Lebens kennenzulernen und sie auch geniessen zu können.

Campione

Manchmal spült mich mein Job an ziemlich schräge Orte, dieses Mal ist es die italienische Enklave Campione d'Italia. Anderthalb Stunden - ich könnte mich auf dem Schiff verkriechen, im Casino meinen Monatslohn verspielen oder mich in der Bar zollfrei vollaufen lassen - ich verbringe sie genussvoll mit einem Fotospaziergang.

Lange ist es her, dass ich das letzte Mal mit einer Kamera durch eine italienische Stadt spaziert bin. Ich geniesse die kleinen aber feinen Unterschiede zum nahe gelegenen Lugano und die vielen Farben neben der in Italien üblichen Natriumdampfbeleuchtung. Der Flecken ist steinreich, auch wenn die kürzlich gefallene Eurobindung unseres Franken arge Probleme bereitet und entsprechend quitschsauber. Das grosse Casino schmerzt irgendwie in diesem verträumten Dorf, die Immobilien sind nahezu unbezahlbar und bereits auf finanzkräftige Russen ausgerichtet.

Tassino

Völlig platt purzle ich nach einem viel zu langen Tag aus dem Kongresszentrum in die frühe Dunkelheit von Lugano, den Kopf voller interessanter News aus den vergangenen 9 Monaten. Irgendwie spannend, manchmal passiert drei Jahre nichts, dann purzeln interessante Entwicklungen haufenweise vor meine Füsse.

Nach einer Pizza Bianca im Bahnhofbüffet mache ich noch einen kurzen Spaziergang und lande im Parco del Tassino. Vor mir liegt der See, die Berge drumrum, haufenweise Lichter. Ich kann es mir nicht verklemmen und mache trotz drohender Schliessung des Parks noch rasch ein Bild von dem wunderbaren Blick.

Orient

Neulich in WhatsApp: Ich het ä Idee für äs shooting gha, brücht aber no n Fotograf.

Eine improvisierte Session vor einem dunklen Badetuch, einen Baustrahler leicht seitlich, minimalistisch bestückte Kamera. Das Tuch zickt, das Make Up fordert heraus - das Resultat gefällt mir umso mehr. Danke Maja, war ein grosser Spass!


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