Bei Münchner Freiheit denke ich erst an eine der Bands aus der Neuen Deutschen Welle, der beinahe monumentale Song Solang' man Träume noch leben kann klingt in meinem Kopf. Seit meiner vorletzten Reise weiss ich, dass der gleichnamige U-Bahn Bahnhof ziemlich abgedreht ist.
Nach der Woche in Brno und viel zu kurzer Zeit in Zürich warten zwei weitere intensive Tage voller Einführungen auf mich. Ich gönne mir einen freien Abend, bin froh dem eisigen Wind entfliehen zu können und nach bald zwei Monaten wieder einmal eine ordentliche Fotostrecken einpacken zu dürfen.
Bei uns wohl besser bekannt unter dem Namen Brünn ist Brno die zweitgrösste Stadt in der Tschechischen Republik. Mit etwas gemischten Gefühlen reise ich hin, liegt die Stadt doch tief in dem bösen Osten meiner Kindheit im kalten Krieg. Mich empfängt eine etwas abgefuckte, aber wie viele Städte im Osten überaus saubere Stadt. Ich fühle mich wohl wie lange nicht mehr unterwegs, die Leute sind zwar verglichen mit „Westlern“ verhältnismässig arm, jedoch reicht das wenige für ein ordentliches Leben. Die Tschechen sind berüchtigt für ihren Bierkonsum (mit 180l pro Kopf top in Europa) und ihre schönen Frauen - ein italienischer Expat antwortete auf die Frage, wann die beste Zeit für einen Besuch wäre, mit come when you are thirsty and single!
Eine intensive Woche, neue Arbeitsweisen, neue Gesichter, neue Philosophien. Brav beteilige ich mich an den teambildenden Massnahmen, gehe mit meinen neuen Mitarbeitern fleissig futtern, bekämpfe sie mit einer Laserkanone, spiele Billard und Bowling, besuche zum Schluss noch die Devconf. Meinen Geburtstag feire ich inmitten von gut hundert Menschen (von denen niemand weiss, dass ich einen speziellen Tag habe *hihi*) aus allen Ecken der Welt, allen Kulturen, allen Religionen - friedlich auf einem Haufen. Mit bleibt eine gute Stunde zum Schluss, um wenigstens ein Bild mit nach Hause zu bringen.
Auf dem Weg von hier nach dort helfen bisweilen Brücken - meine Brücke ist eine Reise mit dem Euronight von Zürich nach Wien und ein langer Spaziergang durch den Prater und der Donau entlang. Das alte fallenlassen, sich für das neue bereitmachen - vom ursprünglichen Plan, dazu ein paar Tage Ferien zu nehmen, ist ein Wochenende geblieben.
Obiges Bild ist die U-Bahn Brücke über die Donau, gleich neben der Marina. Ein imposanter Bau mit ähnlich gestalteten Bahnhöfen an beiden Enden, nicht unbedingt schön, aber eindrücklich. Sie muss für die Galerie hinhalten - die nette Bilderserie vom Riesenrad darf ich gemäss Kleingedruckten neben dem Eingang ohne Einwilligung der Direktion nicht veröffentlichen. Ob das die unzähligen Selfiestickbesitzer mit Facebookanschluss auch wissen?
Sonntagmittag, nach einer Extrastunde Schlaf packe ich für meinen Weg nach München. Draussen schneit es wie verrückt - das erste Mal in diesem Winter - damit ist es Zeit für meine Winterlinse. Auch wenn mein kostspieliger Sturz schon bald drei Jahre her ist, schone ich mein 24-105 und ersetze es in dieser garstigen Jahreszeit durch ein (bedeutend billigeres, dafür ohne roten Ring) 28-135.
Es ist mein letzter Kundenbesuch im Ausland für lange. Noch einmal gebe ich alles, werkle in einem Serverraum, packe Schachteln aus, raile, schiebe Server ins Rack, verkable, teste und übergebe das ganze dem Admin und Benutzer. Die Abende sind frostig kalt, ich bin eher mit Ueberleben beschäftigt als dass ich Lust auf Fotografieren habe. Bin ich froh, in Kürze - mit anderen Visitenkarten im Sack - noch einmal in diese Stadt zu reisen.
Playa del Ingles, Gran Canaria, September 1994, zwischen Abendessen und Hotel. Er fabrizierte unter den Augen der Touristen - bewaffnet mit Baustrahler, Gasmaske, Spraydosen, weisser Folie und diversen Haushaltsutensilien - surreale Landschaften. Schnell reifte die Idee einer Fotostrecke, er war einverstanden uns ein Bild zu sprayen und sich dabei fotografieren zu lassen. Passend vorbereitet1) kamen wir tags darauf wieder vorbei.
Zwei Bilder entstanden vor unseren Augen, ein weiteres hatte er tagsüber in seinem Atelier gesprayt. Eines verschenkten wir, zwei hingen lange Jahre gerahmt in unserem Schlafzimmer - eine schöne Erinnerung an spezielle Ferien.
Beinahe 22 Jahre später ziehe ich die fünf Filme durch den Scanner2), mache Postprocessing3), selektiere Auswahl vom Ausschuss und versuche die Stimmung von meinem geistigen Auge in die Bilder zu bringen4). Ein schönes Erlebnis, eine meiner ganz wenigen Fotostrecken von Künstlern an der Arbeit. Wohin ihn das Leben in dieser langen Zeit wohl gespült hat?
Samstag, Mitte Januar, draussen rieselt etwas Schnee und erinnert an den Winter, der eigentlich sein sollte. Vor anderthalb Monaten war ich voller Vorfreude, jetzt ein paar Freitage zu machen - stattdessen babysitte ich einen Stapel Benchmarks und bin permanent auf dem Sprung ins Büro. Wenn schon körperlich nicht in den Ferien, dann wenigstens neben den Terminals voller Output und dem gigantischen Excel Sheet ein paar Dias in den Scanner werfen.
September 1994. Eingeklemmt zwischen Hochzeit und Photokina machen Nala und ich drei Wochen Ferien. So ganz richtige Ferien, mit dem Flieger auf eine Insel und Uebernachtungen im Hotel - ein ganz seltenes Erlebnis, das wir nur noch einmal wiederholen werden. Zwei Kameras sind mit dabei, wir belichten ein Dutzend Filme (entsprechend das Chaos in den Magazinen, Digitalkameras mit EXIF Infos sind definitiv ein Segen ). Als ich mir Abends gegen elf die Bilder angucke, finde ich einen einmaligen Moment - irgendwo in den Bergen von Gran Canaria fotografiert Beat Nala und Nala Beat:
Linkes Bild Pentax SFX, AF 35-70, rechtes Bild Pentax ME, A 35-105, beide Bilder Agfachrome Professional RS200
Bilder scannen hat etwas Meditatives. Den Scanner mit vier Dias bestücken, Scansoftware starten, zweieinhalb Minuten warten. Zeit zum gedanklichen Abschweifen, für Erinnerungen an Begebenheiten, die damit verbundene Gefühle. Die Hochzeit war vorbei, der Stress im Büro davor weit weg (ich hatte noch kein Handy, mein damaliger Chef in heller Aufregung), mein Einsatz an der Front während der Photokina noch vor mir. Die permanente Angst vor der verwüsteten Wohnung (ein Brauch in der Familie von Nala, enstprechende Andeutungen ihrer Verwandten belasteten sie die ganze Zeit). Unser gemeinsames Unwohlsein in unserer Reisegruppe voller verknallter Päärchen, die regelmässige Flucht ins Hinterland, weg vom Rummel in die Stille. Die Fahrten über Strassen durchs Niemandsland, schroffe Abbrüche, das flaue Gefühl des ständig drohenden Absturzes im Magen. Die seltenen Momente der Entspannung, in denen der Alltag weit weg ist.
Bilder aus 20, 25 Jahren Distanz zu betrachten fällt teilweise schwer, vor allem Bilder von mir (vorsicht, zweideutig ). Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welch üble Fotos ich mehrheitlich gemacht habe, wie lausig eigentlich meine Ausrüstung damals war. Darunter sicherlich einige Perlen - ich merke jedoch gut, dass die Erfahrung der vergangenen sechs Jahre Flatrate Fotografie mich enorm weitergebracht hat, wie qualitativ hochstehend heutige Kameras und Linsen verglichen mit früher war alles besser eigentlich sind.
Dann und wann sehe ich ein Foto mit mir drauf, betrachte den Kerl auf den Bildern - ja, er gleicht mir, ich erkenne mich wieder. Gleichzeitig erschreckt mich die Naivität, die ich damals mit mir trug, den Glauben an die Werte, Verhaltensweisen und Rituale meiner Sozialisierung. Die Unkenntnis über die Menschen um mich herum, ihre Motivationen, ihre Gefühle. Ich sehe, wie wenig ich selbst über das Leben wusste und gleichzeitig der Ueberzeugung war, dass mir die Welt gehört. Grusel Da will ich nicht mehr hin, älter sein hat definitiv etwas für sich, dass ich nicht missen möchte. Da nehme ich die grauen Haare und schmerzenden Gelenke noch so gerne hin.