Ein bisschen Tagebuch.
Ferien. Ein ungewohntes Wort, ein ungewohnter Zustand. Es sind drei Jahre her, dass ich das letzte Mal für zwei Wochen frei nahm. Entsprechend schwierig gestaltet sich der Start, ich reise erst einmal nach Lausanne zu einem Kundenbesuch. Der Gernfersee zeigt sich am Morgen von seiner hässlichsten Seite. Ich versuche ein paar Bilder aus dem Fenster zu machen, überfordere ein wenig meine Kamera und mein buchlesendes Gegenüber.
Die Heimfahrt ist umso besser. Nach einer Sitzung und einer kleinen Reparatur geniesse ich den Spaziergang vom EPFL nach Ouchy. Barfuss durch den Sand und das mitten in der Schweiz Auf der Heimfahrt sitzt mir eine rumänische Medizinstudentin gegenüber und wir plaudern lange über ihre Irrfahrt - sie wollte von Paris nach Genova und bekam ein Ticket nach Genève - und die medizinische Versorgung in ihrem Heimatland. Der laufende Abstimmungskampf bei uns über Managed Care fasziniert sie.
Noch einmal ins Büro, letzte Pendenzen aufarbeiten und Kollegen im Ausland unterstützen. Auf dem Heimweg zu Herrn Ziegelbrücke und Ticket kaufen. Noch weiss ich nicht so genau, was die nächsten Tage bringen und ich buche die grösstmögliche Flexibilität mit einem Interrail für 8 Tage. Das Packen gestaltet sich ähnlich schwierig: Was braucht man für drei Wochen? Ich stehe mit dem Rucksack auf die Waage und kehre meine Frage: Worauf kann man in drei Wochen verzichten? Zuletzt stehen 18kg vor mir. Ein Bisschen zu viel, aber hey, nur mit einer kontinuierlichen Steigerung soll Kraft- und Ausdauertraining nachhaltig wirken
Tag 1 gehörte den Kunden, Tag 2 meinen Mitarbeitern, Tag 3 meiner Familie. Geburtstag meines Vaters. Viele Erinnerungen, ein feines Essen. Vor dem Nachtzug gönne ich mir eine Stunde Ruhe auf dem Lindenhof, am Bahnhof noch ein paar Minuten vor dem City Night Line nach Koblenz.
Die Nacht war definitiv zu kurz. Eine rothaarige Furie und ihre beiden Lakaien, alle drei um die 20 und wohl aus Russland. Sichtlich Kids von Nouveau Riches. Erst bezogen sie das falsche Abteil, dann labberten sie noch bis kurz vor Basel, um umgehend vom Zoll komplett auseinandergenommen zu werden. Patzige Antworten mögen im Osten der Weg sein, mit Beamten umzugehen, bei Deutschen Zöllnern ist es sehr kontraproduktiv. In Frankfurt stiegen sie bereits wieder aus, ähnlich plauderig wie zu Beginn.
Die Zöllner lassen mich in Ruhe, Frau CNL schenkt mir zum Abschied ein Lächeln, der Kaffeeverkäufer in Koblenz spendiert mir einen zweiten Shot in meinen Cappuccino. Machmal lohnt es sich, Rücksichtsvoll zu sein.
Ein Wochenende in der Abgeschiedenheit, zusammen mit lieben Leuten. Ich nehme die letzte Stunde des Weges zu Fuss in Angriff, finde zuvor noch mit einer grossen Portion Glück eine Wanderkarte. Auf halbem Weg verschwindet die Sonne und ich werde gruselig verregnet. Die Brücke der ICE Neubaustrecke ist guter Orientierungspunkt und zeigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
Mein Gepäck bleibt vorerst trocken, dass die kommenden Tage alles feucht werden lassen, weiss ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Der neue Rucksack, den ich nach meinem letzten Regenspaziergang in New Orleans bekommen habe, bewährt sich.
Die Entspannung hat zugeschlagen. Ich quäle mich mit einer Migräne durch den Tag.
Ferienzentrum Im Waldgrund, in der Nähe von Truckenthal. Entstanden in den 50ern, um den sozialistischen Töchtern und Söhnen Ferien im Grünen zu ermöglichen. Gefährlich nahe am bösen Westen wurde es lange Zeit als Camp für die Armee missbraucht. Viel Arbeit muss noch investiert werden, um den Kasernenmief und den Zerfall in den Griff zu bekommen. Ich bin froh, dass noch nicht alles weg ist und verbringe einen gemütlichen Morgen auf der Suche nach Details.
Schon während der Vorbereitung meiner Reise stach mir dir grosse Wunde in der Landschaft auf, die von der Neubaustrecke Ebensfeld - Erfurt in die Landschaft gerissen wurde. Einst sollen hier Züge mit 300km/h durchdonnern, noch ist alles nur im Rohbau. Termine für die Fertigstellung schwanken zwischen 2017 und 2040. Während der Wiedervereinigung klang eine schnelle Verbindung zwischen München und Berlin verlockend, mittlerweile könnte die Strecke zu einer Investitionsruine verkommen. Berlin ist nie zu der wirtschaftlichen Metropole geworden, die man sich vor 20 Jahren erhoffte.
Ich missachte sicher ein Dutzend Verbote, bin froh an diesem Sonntag von keinem Aufpasser angesprochen zu werden. Die Natur kehrt langsam auf die gigantischen Berge von Aushub zurück. Trotzdem einer der Momente, in denen ich meine Mobilität kritisch hinterfrage.
Zurück in den Westen. Als Kind des kalten Krieges habe ich noch immer ein ungutes Gefühl, mich „drüben“ aufzuhalten. Faszinierend, wie sehr die Propaganda noch immer wirkt… Das Wissen um die nuklearen Minen, die noch vor Kurzem die Gegend um Fulda „schützen“ sollten, macht nachdenklich. Sie sind zwar nicht mehr da, ihr tödlicher Inhalt aber noch immer in den Händen der Grossen und Mächtigen der Welt. Ich summe leise Go West und verdrücke ein Stück Schokoladekuchen im Bistrowagen. Der Kaffee schwappt bis Fulda gefährlich im Becher, danach bleibt er auch ohne Hilfe auf dem Tischchen stehen. An ihm sehe ich den Bruch, der noch heute zwischen Ost und West vorhanden ist.
In Frankfurt entsteht ein neuer Stadtteil auf einem ehemaligen Güterbahnhof, das ehemalige Stellwerk steht nutzlos am Rand. Strassen führen ins Nichts, blinde Signale warten auf ihre Aufgabe. Grosse Brachflächen weichen modernen Würfelbauten. Die Gegend ist offensichtlich Spekulationsobjekt, nicht ein für Menschen geschaffener Ort. Mir begegnen nur wenige Leute, teilweise Krawatties von der nahen Messe, die Mehrheit Migranten. Noch hat es den einen oder anderen Gemüseladen, bald werden sich wohl auch hier die Modelabels aufreihen.
Stippvisite zuhause. Ich brauche saubere, trockene und vor allem _warme_ Kleidung. Es hat noch 10°, meine Jeans sind voller Löcher. In Frankfurt schien wenigstens noch die Sonne, in Zürich empfängt mich triefender Regen.
Aus der Stippvisite wurde ein Arbeitstag. Meine INBOX explodierte, die Diskussion über eine Mail darin war mir zu wichtig, als dass ich sie auf später verschieben wollte. Ein paar neue Jeans standen auf dem Programm und ich kenne gerade einen Laden in Europa, dessen Verkäuferin über 501, W29, L30 nicht in helles Entsetzen ausbricht.
Ich musste auch erkennen, dass ich einen Schluck Planung im Leben brauche, um mich wohlzufühlen und verbrachte einen knappen Tag über dem Fahrplan und dem Terminplaner des Kongresses in Hamburg. In einer kurzen Regenpause verliess ich das Büro und spazierte an den Feldern entlang. Vermutlich werden aus den kleinen Pflanzen bald grosse Maisstauden - wenn der Regen endlich aufhört und die Pfützen versickern können.
Früh aus dem Bett, gemütlich mit der Familie Zmörgelet. Gepackt, geduscht, Nala im Dorfladen ein letztes Mal gedrückt. Der Nebel wabert durch das Dorf, über der Kirche geht die Sonne auf. Nächste Destination is München.
Die 20 Minuten berichtet von 2.4 Millionen Schweizern, die Aufgrund von Stress an Kopfweh leiden. Ich kann das nachvollziehen, finde mich in der Statistik wieder. Neben mir plaudern zwei Kuststudentinnen über ihre Arbeit. 7×24 Stunden, Augenringe, jeden Tag Herausforderungen, Reisen durch halb Europa, Kongresse, Ausstellungen. Ihre Arbeit gleicht meine Job, nur habe ich im Gegensatz zu den Beiden die Gewissheit, dass meine Familie Ende Monat genug Geld zum Leben hat. Mein Job wird mich noch ins Grab bringen, aber ich könnte mir keinen anderen vorstellen.
Für einmal nächtige ich in der Jugi von München. Im Dachstock gibt es 34 Betten, die gemischt belegt sind - eine Ausnahmeerscheinung in Jugis, interessanterweise häufiger in stockkatholischen Gegenden. Ich gucke mich in solchen Zimmern gerne um und überlege mir, was wohl für Menschen zu den Hinterlassenschaften gehören. Gerade weibliche Mitbewohner tendieren dazu, aus ihren Habseligkeiten ein irrsinns Chaos zu veranstalten
Diese ordentlich aufgereihten Schuhe gehörten zu einem scheuen Mädchen, vielleicht im Alter von Beni. Stumm und etwas ängstlich verkroch sie sich früh ins Bett, wortlos ass sie ihr Frühstück. Ich hoffe, meine Erscheinung im Utilikilt hat ihr keine bleibenden Schäden verursacht.
Die Leute fragen mich oft, wo ich denn übernachte. In den meisten Fällen druckse ich etwas herum und erzähle von der Innenstadt und mein Reisebüro hat da etwas gebucht, ich weiss noch nicht wo. Ein ehrliches in der Jugi erschreckt alle. Die einen fragen sofort vermag Dein Chef nichts Besseres?, die Anderen kennst Du denn niemanden hier?
Ich mag Jugis, spätestens seit meinem ersten Auslandeinsatz. Mein Auftraggeber hatte ein fünf-Sterne-Businesshotelzimmer gebucht und ich fühlte mich total einsam. So einsam, dass ich gegen 21:00 in den nächsten McDonalds ging, um wenigstens ein paar Menschen um mich zu haben. Ich kann sie kurzfristig buchen, meine Flexibilität wird leider nur allzuoft von meinem Job aufgesogen. Und ich weiss, dass es ordentliches Frühstück gibt!
Als ich meine Ferien eingefädelt habe, fand ich es durchaus eine gute Idee, zu Beginn noch einen Kundeneinsatz in München zu planen. Wie üblich fallen meine Pläne oft ins Wasser und ich musste ihn mehrfach verschieben. Richtig übel wurde es aber, als ich dann einen Dreivierteltag Windows Probleme vor mir hatte. DAS sind definitiv keine Ferien.
Weiter nach Hamburg, zur International Supercomputing Conference. Eigentlich keine Ferien mehr, aber irgendwie ganz ähnlich. Vorträge, Workshops, neue Ideen, Socializing. Ueblicherweise eine intensive, aber erstaunlich stressfreie Zeit. Bevor ich in meinen ICE springe, hole ich mir noch rasch einen Kaffee und meine Mail.
Zwei Dinge faszinieren mich an den Deutschen. Ihre Vorstellung, dass mein Hochdeutsch „Dialekt“ sei - ich han i somene Fall dem vor mir au scho in Schizerdütsch müse säge, dass ich mir für ihn ganz viel Müeh gibe - und ihre Unfähigkeit, meinen Namen auszusprechen. Bert, Bit, Biit, Bla… Alle Varianten musste ich schon hören. Zum Glück gibt es in Deutschland die Beate, mit ihr beschreibe ich jeweils, wie man meinen Namen ausspricht. Bill ist neu, zum Glück war ich der Einzige, der einen Tall Cappuccino wollte