Weihnachtsmorgen. Wie üblich früh raus, Meerschweinchen versorgen, selbst etwas in den Kopf drücken. Im Haus ist es totenstill, die Kids schlafen noch tief und fest. Draussen tobt der Föhn, sobald er zusammenbricht kommt der Winter zurück. Womit den Rest des Morgens verbringen?
Ich wende mich einem Bündel Dias zu. 24. Juni 1993, wir kamen eben von Skandinavien zurück, verbrachten noch drei Tage im Tessin. Ich hatte einen Stapel Filme übrig, Entwicklungskosten machten mir (unverheiratet und ohne Kids…) keine Bauchschmerzen. Es sollte beinahe 20 Jahre dauern, bis ich wieder (dank Digiknipse) in dieser Unbefangenheit Menschen fotografiere.
Vier Stunden Kampf mit den Bugs der „besten“ Scannersoftware, danach sind die 16 Filme drinn. Wird noch etwas Postprocessing benötigen, das OK des Models brauche ich selbstverständlich auch. Mich überrascht es einmal mehr, was früher möglich war und wie begrenzt die digitale Darstellung von Bildern sein kann.
Zum Znacht ein weihnächtliches Abendessen. Ich lasse mich auf einen Ris-o-Beat ein, der sehr schmackhaft, aber viel zu klein geratet. Gut habe ich noch eine Dose Schoggicrème und etwas Schlagrahm im Kühlschrank!
Sie lag am Heiligabend 1983 unter dem Christbaum.
Klein-Beat ging in die 6. Klasse, der Uebertritt in die Sek war unter Dach und Fach. Seine Mitschüler machten ihm das Leben zur Hölle, der Lehrer warf mit Bleistiften und Radiergummis durchs Klassenzimmer. Lange Spaziergänge in Zürich und auf dem Uetliberg wurden zu meinem Ventil.
Kurz zuvor brach mein Vater sein Projekt Selbstständigkeit ab, das Haus war voll Inventar aus dem Laden an der Zweierstrasse. Das Gastzimmer wurde eben zu meinem Zuhause und sollte es für die nächsten Jahre auch bleiben.
Trotz Schulden und viel zu langer Arbeitstage wollte mir mein Vater etwas zugute kommen lassen. Die Sommerferien verbrachte ich mit dem Ferienpass zuhause in Zürich, meine Fotos mit der Agfamatic Pocket meiner Mutter scheinen mein „Sehen“ aufgezeigt zu haben. Ich sollte eine ordentliche Kamera bekommen.
Die Evaluation dauerte lange und war fundiert, ein 5cm Stapel Prospekte und Preislisten lag auf meinem Nachttisch. Etwas Steuerung von meinem Vater, es sollte keine Knipse sein, sondern eine „richtige“ Kamera. Eine, bei der ich einzustellen hatte und etwas lernen würde.
Prägende Erlebnisse, deren Wirkung mir teilweise erst in diesem Jahr so richtig bewusst wurde.
Die Pentax K1000 mit dem 2.0/50er begleitete mich lange, für die vielen Filme fanden meine Eltern und ich selbst immer etwas Geld im Portemonnaie. Es kamen Teile hinzu, drei Jahre später erbte ich eine Olympus, noch einmal drei Jahre später kaufte ich mir von meinem Lehrlingslohn eine Hasselblad, noch einmal viele Jahre später verschwand auch diese und ich bin seither mit einer grossen Digiknipse unterwegs. Sie blieb bei mir, eingepackt in ihrer Bereitschaftstasche, wie sie unter dem Baum lag. Manchmal in einer Bananenschachtel im Keller, manchmal in einer kleinen Vitrine, aktuell liegt sie im Zimmer von Maja.
Vor zwei Jahren packte ich sie ein, kaufte unterwegs eine Batterie und Film. Machte vor dem Nachtzug noch einen Besuch bei meinen Eltern und zeigte sie meinen Vater. Er sollte wissen, wie viel sie mir bedeutet hatte, wie viel sie in meinem Leben ausgelöst hat.
Es sollte das letzte Mal sein, dass ich ihn zuhause sehe.
Der kürzeste Tag im Jahr, die Sonne guckt für wenige Minuten auf unseren Vorplatz. Ich witzle mit einem Nachbarn über die Tatsache, dass es ab morgen wieder Richtung Sommer geht.
Hier zu leben ist wie im Kino zu sitzen. Da bist Du auch nicht im Hellen, sondern guckt aus dem Dunkeln ins Helle. Ein guter Weg die dunklen Monate im Dorf zu überstehen. Immerhin haben wir oft blauen Himmel, wenn ein paar Meter tiefer der Hochnebel wabert.
Seit Sonntag sind wir endgültig Provinz Agglo Einzugsgebiet von Zürich, Herr SBB hat die wohl grösste Fahrplanumstellung in der Geschichte des Glarnerlandes hinter sich gebracht. Ich stehe etwas verloren vor der Abfahrtstafel in Ziegelbrücke.
Noch vor wenigen Tagen gab es hier eine „Spinne“ jede Stunde, richtige Züge mit Lokomotive und Speisewagen und Minibar nach Chur und Basel, ja selbst internationale Verbindungen nach Hamburg und Brüssel.
(Archivbild)
Alles vorbei. Ich weiss noch nicht, was mir mehr fehlen wird: Die Gewissheit auf einen Anschluss jede Stunde, die Frischluftwagen im Sommer, die bequemen und zum Schlafen einladenden Sitze, die drei in die Ferne lockenden Zugspaare, der nahtlose Anschluss nach München und aufs Postauto ins Tessin bzw. nach Milano, die kurze Fahrt an den Strand vom Gäsi oder den sporadischen Flirt mit einer Kondukteurin.
Bis im Juni wird unser Fahrplan noch Löcher haben, ich werde wohl noch einige Male wie heute eine halbe Stunde in Ziegelbrücke warten und auf meinem Arbeitsweg einmal mehr umsteigen müssen. Dafür gibt es noch bis da hin noch zwei direkte Intercitys am Morgen früh, danach nur noch aufgebohrte S-Bahnen RegioExpresse und S-Bahnen. Ich hoffe jetzt einfach, dass der Billetschalter nicht auch noch aufgegeben wird. Das freundliche Grüezi Herr Rubischon würde mir definitiv fehlen.
Die Zürcher S-Bahn hatte in den 20 Jahren ihres Bestehens einen enormen Einfluss auf die Immobilienpreise und Mieten - bin ja gespannt, ob die Glarner St. Galler S-Bahn einen ähnlichen Einfluss haben wird. Wenn ja, wird das Leben hier unbezahlbar.
BTW, noch hat es Bauland im Dorf, traumhafte und unverbaubare Vollmondnächte inklusive
Morgen ist Vollmond. Vor 20 Jahren fuhren Nala und ich an Weihnachten nach Obstalden, kamen von Filzbach her und blickten zum ersten Mal auf den Vollmond über dem Walensee. Der heutigen Blick ist ein Abklatsch von damals, wir verliebten uns jedenfalls sofort in den Ort
Allerdings hatten wir damals noch kein Kind mit Magen-Darm-Grippe. Ich krame mein Wissen aus meiner Zeit als Sanitätssoldat hervor und deklariere gleich ein Klo als kontaminierte Zone.
Durchfall und Erbrechen ist definitiv das Letzte, was ich in einer solch schönen Nacht brauchen kann.
Einkaufen, auf der „andere Seite“ des Berges. Wohlwissend über die tolle Aussicht packe ich die Kamera mit ein und mache ein Bild Richtung Zürich.
Dieses Jahr hat viel bewegt, unter anderem sitze ich wieder sporadisch in einem Auto. So richtig wohl fühle ich mich dabei nicht und ich bin froh, es am Schluss ohne Beulen und Kratzer zurück in die Garage zu stellen.