Zwei Tage Schulung spülen mich nach Frankfurt. Runde zehn Jahre ist es her, dass ich, motiviert von einer Freundin, die vor Ort arbeitete, tief in diese Stadt eintauchte.
Mich empfängt Nieselwetter, der Bahnhof, die S-Bahn nach Sachsenhausen und das Quartier selbst erscheinen mir genauso wie vor 10 Jahren - nichts ist passiert, ausser den Spuren der Zeit. Alles ist am zerfallen und kaputtgehen, versifft, vermüllt und von einem wilden Sammelsurium von Menschen bevölkert, von denen niemand Deutsch spricht. Ich brauche die beiden Tage, um mich in der Stadt (wieder) zurechtzufinden, ein Gefühl dafür zu bekommen, auf welchen Strassen ich mich mit einer dicken Kamera tummeln kann, ohne einen Schlag auf den Hinterkopf zu riskieren. Gut bin ich im Sommer noch einmal hier und kann all die Blicke einfangen, die ich dieses mal verpasst habe.
Am Dienstag ein langer Spaziergang zum Bahnhof, mitten durch das Bankenviertel. Es erscheint ganz anders, wie mit der Zahnbürste geputzt, lauter Mädchen in Deux Pieces und Jungs mit Krawatten, fette Porsches auf der Strasse und eine mit Drittmitteln aufgehübschte S-Bahn Station. Die Schere ist sichtlich aufgegangen - die beiden Parallelwelten „mit Geld“ und „Looser“ sind sauber voneinander getrennt, die Stadt investiert ihr schmales Budget nur dahin, wo das Geld schon auf einem grossen Haufen liegt.
Die streikenden Lockführer haben mein vollstes Verständnis, auch wenn ihre Aktion meine Reisepläne kräftig durcheinanderwirbelt. Dieser Neofeudalismus, wie ich ihn in Frankfurt so nah miterleben kann, ist definitiv keine gesunde Entwicklung.
Chaos wohin ich blicke - dennoch lasse ich es mir nicht nehmen und zelebriere wie letztes Jahr den Worldwide Pinhole Photography Day.
In den Wintermonaten entstanden ein paar Ideen, letztendlich wurde ein unvorbereitetes Bild mein persönlicher Favorit. Ein grosser Chriesibaum, ein spontanes Modell 1) und Cherry Blossoms war im Kasten. Das gelaserte Pinhole war für dieses Bild schlicht zu scharf 2), die Zoneplate 3) aus der Wundertüte brachte genau die passende Stimmung.
Für die Agenda: Sonntag 24. April 2016, nächster Worldwide Pinhole Photography Day
Seit ein paar Tagen steht vor meiner Stadtwohnug ein Gerüst und ich habe ein mulmiges Gefühl dabei - der Zugang zum Fenster war noch nie so einfach wie jetzt. Zeit, meinen Krempel mal auszubreiten und eine ordentliche Liste zu schreiben. Dabei sind mir spannende Dinge aufgefallen:
Und für mich ganz besonders überraschend:
Davon müsste ich mich gemäss meiner aktuellen Lebenseinstellung trennen
Samstagnachmittag. Ich rechne nach dieser Woche mit einer heftigen Migräne und bin letztendlich erfreut, dass mein Kopf „nur“ schmerzt und der Mageninhalt drin bleibt. Mir bleibt genug Energie für meine Idee, das Wort Migräne bildlich einzufangen, mich fotografisch damit auseinanderzusetzen. Auf die Kamera kommt ein Teil aus der Wundertüte und ich gehe auf einen Spaziergang raus - soll ja gesund sein und gegen Kopfschmerzen helfen.
So richtig zwäg bin ich nicht, das merke ich am Schanzengraben. Unbemerkt von mir, wohl beim Free Hug vor der Pestalozziwiese, hat sich die Kamera an meiner Jacke verfangen und die automatische ETTR Regelung mal schnell +5 Blenden eingestellt. Die Bilder sind katastrophal überbelichtet - dabei wäre es mein Job, jeweils einen Blick auf die Sucheranzeige zu werfen. Für die Tonne? Oder richtige Kunst? Ich mag mich nicht entscheiden und besinne mich auf den Satz Ich bin der Künstler, ich darf das.
Von der Paradiesstrasse zur Militärstrasse, der Sihl entlang - ein langer Spaziergang, den ich an diesem wundervollen Frühlingstag unter die Füsse nehme. Drei Stunden, eine Batterie und eine Speicherkarte später bin ich mit einem ordentlichen Muskelkater am Ziel.
Die Sihl ist im Stadtgebiet gefürchtet, kanalisiert, verbaut, überbrückt und untertunnelt. Die alten Zürcher hausten an der Limmat, die Sihl war draussen vor der Stadtmauer, sorgte für Ueberschwemmungen, Krankheiten und unfruchtbares Sumpfland. Wer da lebte, war verloren. Ueber die Jahre wuchs die Stadt, Aussersihl wurde eingemeindet, die Industrie an ihrem Wasser Grundlange von grossem Wohlstand - der schlechte Ruf zieht sich bis ins heutige Langstrassenquartier. Die Bahn übernahm die gefährliche Flösserei aus dem stadteigenen Wald im Sihltal, das Flussbett wurde beim Vergraben der linksufrigen Seebahn verschoben, in den 60ern kam die Sihlhochstrasse als Zubringer für das geplante Ypsilon mitten in der Stadt. In den 80ern bekam die Sihltal- und Uetlibergbahn ein Tunell im Fluss, in den letzten 20 Jahren entstand das Autobahndreieck über der Allmend und der erste Teil des Zimmerberg Basistunnels. Kein Stein blieb auf dem anderen, die ehemalige Baustelle ist jetzt Staubecken für den gefürchteten Fall eines Bruches der Sihlsee Staumauer.
Das Sihltal habe ich in dunkler Erinnerung, einer der hässlichsten Flecken in Zürich. Wir waren nie gerne da, viel eher zog es uns an die Limmat und den See. Gleichzeitig verbinden mich Erinnerungen, die langen Spaziergänge von klein-Beat mit seinem Mami und den Hunden, die Besuche der Modellfliegernerds mit seinem Papi, ein Badenachmittag im eisigen und schmutzigbraunen Wasser, die endlose Baustelle, die mich über die ganze Zeit als Autopendler zwischen Obstalden und meinem Arbeitsplatz verband. Auch heute ist die Sihl und ihr Tal einer der hässlichsten Flecken der Stadt - auch wenn die Frühlingssonne alles gibt, um ihn einigermassen hübsch aussehen zu lassen.
Nicht alle meiner Bilder entstehen aus purem Spass - wenn ich schon die Kamera mit dabei habe, gibt es auch öfters Dokumentation. Ein Bild hilft oft, Sachverhalte zu vermitteln, die zu beschreiben nicht ganz so einfach sind. Diese Bilder zu machen helfen mir gleichzeitig, mich mit der Sache auseinanderzusetzen, sie aus den Augen eines Fremden zu sehen, ein bisschen Distanz zu gewinnen.
Ich will nach Hause. Dieser Satz, vielleicht ein bisschen trotzig geäussert, klingt in meinem Kopf nach. Nach erledigtem Tagewerk setze ich mich auf eine Bank über der Stadt, gucke in die blaue Stunde und sinniere darüber. Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen, kenne sie wie keine Zweite. Die Menschen hier sprechen meine Sprache, ich kenne die Usanzen und Gesetze. Aber Zuhause? Nein. Ich bin hier nicht zuhause, eher Gast auf meiner langen Reise durchs Leben. Das Gefühl von Zuhause ist mir fremd, es ist nicht hier, es ist nicht dort. Vielleicht verbinden mich angenehme Erlebnisse mit einem Ort, verwandte und bekannte Menschen, die Möglichkeit Geld zu verdienen und zu überleben, eine Portion sozialer Sicherheit. Aber Zuhause, Heimat - das ist überall und nirgends.
Vermutlich bekam ich einen kleinen Knacks als junger Teenie, als ich ins Gästezimmer umzog. Draussen zu sein wurde meine Welt, ich fand das erste mal in mir meine Mitte. Die letzten Jahre voller intensiver Reisen durch halb Europa taten das ihrige, mich in mir zuhause zu fühlen und nicht auf einen Ort angewiesen zu sein, den ich als Zuhause sehe, spüre. Egal wo ich bin, ich bin in mir und damit zuhause.
Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem ich nicht mehr gehen mag, nicht mehr für mich sorgen kann. Ich sehe mit guter Zuversicht diesem Tag entgegen - egal wo es sein mag, mit meiner Einstellung werde ich meinen Platz finden, mich von meinem bisherigen Leben und den damit verbundenen Orten lösen können. Statt einem trotzigen Ich will nach Hause werde ich mich freuen können, eine neue Station auf dem Weg meines Lebens kennenzulernen und sie auch geniessen zu können.