Sonntagmittag, nach einer Extrastunde Schlaf packe ich für meinen Weg nach München. Draussen schneit es wie verrückt - das erste Mal in diesem Winter - damit ist es Zeit für meine Winterlinse. Auch wenn mein kostspieliger Sturz schon bald drei Jahre her ist, schone ich mein 24-105 und ersetze es in dieser garstigen Jahreszeit durch ein (bedeutend billigeres, dafür ohne roten Ring) 28-135.
Es ist mein letzter Kundenbesuch im Ausland für lange. Noch einmal gebe ich alles, werkle in einem Serverraum, packe Schachteln aus, raile, schiebe Server ins Rack, verkable, teste und übergebe das ganze dem Admin und Benutzer. Die Abende sind frostig kalt, ich bin eher mit Ueberleben beschäftigt als dass ich Lust auf Fotografieren habe. Bin ich froh, in Kürze - mit anderen Visitenkarten im Sack - noch einmal in diese Stadt zu reisen.
Playa del Ingles, Gran Canaria, September 1994, zwischen Abendessen und Hotel. Er fabrizierte unter den Augen der Touristen - bewaffnet mit Baustrahler, Gasmaske, Spraydosen, weisser Folie und diversen Haushaltsutensilien - surreale Landschaften. Schnell reifte die Idee einer Fotostrecke, er war einverstanden uns ein Bild zu sprayen und sich dabei fotografieren zu lassen. Passend vorbereitet1) kamen wir tags darauf wieder vorbei.
Zwei Bilder entstanden vor unseren Augen, ein weiteres hatte er tagsüber in seinem Atelier gesprayt. Eines verschenkten wir, zwei hingen lange Jahre gerahmt in unserem Schlafzimmer - eine schöne Erinnerung an spezielle Ferien.
Beinahe 22 Jahre später ziehe ich die fünf Filme durch den Scanner2), mache Postprocessing3), selektiere Auswahl vom Ausschuss und versuche die Stimmung von meinem geistigen Auge in die Bilder zu bringen4). Ein schönes Erlebnis, eine meiner ganz wenigen Fotostrecken von Künstlern an der Arbeit. Wohin ihn das Leben in dieser langen Zeit wohl gespült hat?
Samstag, Mitte Januar, draussen rieselt etwas Schnee und erinnert an den Winter, der eigentlich sein sollte. Vor anderthalb Monaten war ich voller Vorfreude, jetzt ein paar Freitage zu machen - stattdessen babysitte ich einen Stapel Benchmarks und bin permanent auf dem Sprung ins Büro. Wenn schon körperlich nicht in den Ferien, dann wenigstens neben den Terminals voller Output und dem gigantischen Excel Sheet ein paar Dias in den Scanner werfen.
September 1994. Eingeklemmt zwischen Hochzeit und Photokina machen Nala und ich drei Wochen Ferien. So ganz richtige Ferien, mit dem Flieger auf eine Insel und Uebernachtungen im Hotel - ein ganz seltenes Erlebnis, das wir nur noch einmal wiederholen werden. Zwei Kameras sind mit dabei, wir belichten ein Dutzend Filme (entsprechend das Chaos in den Magazinen, Digitalkameras mit EXIF Infos sind definitiv ein Segen ). Als ich mir Abends gegen elf die Bilder angucke, finde ich einen einmaligen Moment - irgendwo in den Bergen von Gran Canaria fotografiert Beat Nala und Nala Beat:
Linkes Bild Pentax SFX, AF 35-70, rechtes Bild Pentax ME, A 35-105, beide Bilder Agfachrome Professional RS200
Bilder scannen hat etwas Meditatives. Den Scanner mit vier Dias bestücken, Scansoftware starten, zweieinhalb Minuten warten. Zeit zum gedanklichen Abschweifen, für Erinnerungen an Begebenheiten, die damit verbundene Gefühle. Die Hochzeit war vorbei, der Stress im Büro davor weit weg (ich hatte noch kein Handy, mein damaliger Chef in heller Aufregung), mein Einsatz an der Front während der Photokina noch vor mir. Die permanente Angst vor der verwüsteten Wohnung (ein Brauch in der Familie von Nala, enstprechende Andeutungen ihrer Verwandten belasteten sie die ganze Zeit). Unser gemeinsames Unwohlsein in unserer Reisegruppe voller verknallter Päärchen, die regelmässige Flucht ins Hinterland, weg vom Rummel in die Stille. Die Fahrten über Strassen durchs Niemandsland, schroffe Abbrüche, das flaue Gefühl des ständig drohenden Absturzes im Magen. Die seltenen Momente der Entspannung, in denen der Alltag weit weg ist.
Bilder aus 20, 25 Jahren Distanz zu betrachten fällt teilweise schwer, vor allem Bilder von mir (vorsicht, zweideutig ). Ich bin immer wieder erstaunt darüber, welch üble Fotos ich mehrheitlich gemacht habe, wie lausig eigentlich meine Ausrüstung damals war. Darunter sicherlich einige Perlen - ich merke jedoch gut, dass die Erfahrung der vergangenen sechs Jahre Flatrate Fotografie mich enorm weitergebracht hat, wie qualitativ hochstehend heutige Kameras und Linsen verglichen mit früher war alles besser eigentlich sind.
Dann und wann sehe ich ein Foto mit mir drauf, betrachte den Kerl auf den Bildern - ja, er gleicht mir, ich erkenne mich wieder. Gleichzeitig erschreckt mich die Naivität, die ich damals mit mir trug, den Glauben an die Werte, Verhaltensweisen und Rituale meiner Sozialisierung. Die Unkenntnis über die Menschen um mich herum, ihre Motivationen, ihre Gefühle. Ich sehe, wie wenig ich selbst über das Leben wusste und gleichzeitig der Ueberzeugung war, dass mir die Welt gehört. Grusel Da will ich nicht mehr hin, älter sein hat definitiv etwas für sich, dass ich nicht missen möchte. Da nehme ich die grauen Haare und schmerzenden Gelenke noch so gerne hin.
Einen langen Abend, eine kurze Nacht, ein weiterer langer Morgen. Meine Benchmarkzahlen kommen langsam zusammen. Ich packe ein weiteres altes Projekt an und lege einen Stapel Negative in den Scanner, zum Schluss ist die Essenz von zwei fetten Ordnern auf meiner Platte. Die beiden Augen entstanden am 15. Dezember 2002, Hasselblad 1000F, 250er, Balgengerät, Fuji NPH400. Preisfrage: Welches Auge gehört welchem Kind?
Seit meinem Auszug von Zürich im 1993 begleitet mich eine Bananenschachtel voller Negative, Dias, Kontaktabzügen und Vergrösserungen. Ein wildes Sammelsurium aus den vergangenen 33 Jahren Fotografieren. Einerseits nette Erinnerungen, andererseits aber auch immer eine Belastung (wortwörtlich, es sind mehrere Kilo Zeugs drinn). Was soll ich von der Vergangenheit mitschleppen? Was ist es wert, erhalten zu werden? Und wie? Für wen erhalte ich es eigentlich? Für mich, für jemanden anderen?
Letzteres ganz bestimmt nicht, das sehe ich am Nachlass meines Vaters und Schwiegervaters. Beide machten Bilder, ihre Witwen haben keinerlei Bezug dazu, für die Kinder sind es Erinnerungen aus einem fremden Leben. Die Bilder, die jemandem etwas bedeutet haben, sind längst in den Händen der jeweiligen Personen. Genauso wie die meisten heutigen Fotografen (es sollen 8x mehr Menschen fotografieren als vor 10 Jahren) ihre Bilder in ihrem sozialen Netzwerk verteilen, habe auch ich meine Bilder (halt von Hand) weitergegeben.
Erkenntnis aus diesen filosofischen Betrachtungen: Ich mach(t)e die Bilder für mich, wenn ich etwas archiviere, wird für mich sein.
Entsprechend gehe ich jetzt auch diese Bananenschachtel an: Die Dinge herausziehen, die mir etwas bedeuten, die mir Freude bereiten. Der Rest entsorgen, mit gutem Gewissen. Mich belastet die Schachtel und ich weiss genau, dass sie auch meine Erben belasten würde. Sie werden genug an meinem elektronischen Bilderarchiv zu kauen haben - wenigstens können sie diese Bits umweltfreundlich rezyklieren
Draussen nieselt der Regen vor sich hin, ich babysitte Benchmarks im fernen Volketswil und bin froh, ein Problem durch einen Reboot und nicht persönliche Intervention flicken zu können. Und wenn ich schon am Computer sitze, kann ich gleich eines der lange angedachten Projekte an die Hand nehmen und ein Korrekturprofil für mein Canon EF 70-210mm 1:4 zusammenbasteln.
Die Linse wurde 1987 zusammen mit der EOS 650 lanciert, der optische Aufbau dürfte aus dem FD 70-210/4.0 stammen, welches scheinbar mit der A-1 Ende der 70er lanciert wurde. Aus heutiger Sicht verzeichnet die Linse gewaltig, vignettiert vor allem im Telebereich massiv und zeigt fröhlich chromatische Aberration. Sie klingt beim Fokussieren wie ein Modellauto und ist relativ langsam, Sports and Action ist definitiv nicht (mehr) ihre Stärke.
Ich liebe sie. Mein Exemplar fand im Frühling 2010 den Weg aus dem Occasionsschaufenster vom Ganz in der Museumspassage (auch Geschichte…) für 120.- den Weg zu mir, der goldene JCII Aufkleber lässt ordentliche Behandlung vermuten. Ich packe sie drei, vier mal pro Jahr auf meine Kamera - selten genug, dass ich die Beschaffung einer „modernen“ Linse für eine reichlich sinnlose Investition halte. Interessanterweise benutze ich sie meist in dunkler Umgebung, die Schärfe der Linse reicht durchaus aus, um bei > 6400 ISO nicht der limitierende Faktor zu sein.
DxO Optics ist aktuell der einzige Entwickler, der die Linse kennt - nur konnte ich mich bisher nicht dazu überwinden, ihn zu erwerben. Hey, das Programm würde das doppelte bis dreifache des Objektives kosten Und mit RawTherapee habe ich die Möglichkeit, die Chromatische Aberration automatisch zu korrigieren (klappt prima), der Vignettierung mit einem Flat-Field zu Leibe zu rücken und die Verzeichnung mit einem Regler zu korrigieren. Letzteres soll natürlich in mein Script zur Profilerstellung, schliesslich will ich nicht jedes Foto individuell anpacken müssen.
So kommt es, dass ich ein paar Bilder der Fassade gegenüber mache, die Korrekturwerte finde, sie in Excel visualisiere und erstaunt darüber bin, wie grottig die Linse tatsächlich ist. Und ich klebe etwas Backpapier davor, mache ziemlich lausige Flat-Field Aufnahmen - vielleicht finde ich demnächst doch eine Quelle für Milch-Plexi-Glas, mindestens 3mm stark? Für Offenblende reicht es zumindest, alles unter Blende 11 zeigt die Struktur des Backpapiers - ist aber für mich irrelevant, da ich eigentlich nie so weit abblenden muss. Und zuletzt noch etwas fröhliches Programmieren, um möglichst nahtlose Korrekturwerte zu bekommen (hätte ich bloss mal Funktionen gelernt, ich könnte die Kurven besser nachbilden…)
Jetzt muss es nur noch schönes Wetter werden, um diese Einstellungen in der Praxis auszuprobieren
Trotz durchzogenem Wetter pilgere ich auch in diesem Silvester zu meinem Stammplatz am Panoramaweg mit dem Plan, etwas vom Neujahrsfeuerwerk einzufangen. Noch kurz vor Mitternacht ist die Sicht auf das Seebecken klar, dann kommt eine grosse Wolke und verdeckt das Spektakel vollständig. Irgendwie auch spannend, Feuerwerk mal nur zu hören und nicht zu sehen Genauso kommt mir auch 2016 vor: Alles noch in dicken Nebel gehüllt, auch wenn ich von einigen grosse Eckdaten darin schon weiss und sie bereits hören kann.
Mehr aus Jux als mit Plan richte ich die Kamera auf die Gruppen neben mir, die fleissig mit Raketen, Vulkanen und anderem Zeugs um sich wirft. So komme ich doch noch zu einem Feuerwerksbild
So wirklich nachvollziehen kann ich diesen Brauch allerdings nicht. In einen Laden zu gehen, (von chinesischen Kinderhänden?) fertig konfektioniertes Feuerwerk zu erwerben und dieses anzuzünden, ist für mich reichlich unverständlich. Hängt es mit dem Trieb in vielen Menschen zusammen, sich durch Verschwendung ihres Reichtums profilieren zu wollen? Ich bin da wohl falsch erzogen worden - zu sparsam und zu kreativ, um mit etwas nicht selbstgemachtem zu protzen.
Genauso Mühe haben die Spaziergänger 15 Stunden später an dem Ort. Während die Gruppe rechts von mir (von der das nette Feuerwerksbild stammt) ihren Müll zumindest in einen Papiersack verstaut und neben dem Mülleimer deponiert haben, hinterliess die Gruppe links von mir ein Schlachtfeld. Leere Energydrinkdosen, Wegwerfsektgläser, ausgebrannte Vulkane, Raketenstartplattformen und verbrannte Erde. Wohl auch das eine Eigenschaft vieler Menschen, einfach zu nehmen und liegenzulassen - ganz im Gegensatz zu der älteren Frau, die sich sicher 20 Minuten echauffierte, bin ich mir jedoch bewusst, dass das nicht „die heutigen Jungen“ sind. Schon unsere Uhrahnen haben fleissig gelittert, ihre Spuren auszubuddeln ist ein guter Job für unsere Archäologen.
In uns Menschen stecken viele Urtriebe, die uns in den paar 10'000 Jahren, in denen wir uns über die Erde verteilt haben, halfen. Nehmen, was da ist. Zurücklassen, was stört. Möglichst viel Eindruck schinden, um die Mädchen ins Bett zu kriegen. Klar, haben wir auch eine Portion Empathie in uns, schliesslich muss unser Rudel irgendwie überleben. Aber wie gross ist unser Rudel? Die paar Leute um uns herum? Unsere Stadt? Unsere Nation? Unsere Spezies? Die Ansichten unterscheiden sich hier wohl grundlegend.
Ganz im Gegensatz zu vielen Bekannten auf Facebook, gerade zum Jahreswechsel, bin ich überzeugt davon, dass wir es nicht schaffen werden, die diversen Herausforderungen anzupacken, die uns die Lebensweise der vergangenen Jahrhunderte beschert. Die extremen wirtschaftlichen Gefälle. Die Folgen von Kriegen, der Hass aufeinander, Neid. Das sich rasant verändernde Klima, welches uns eine Rekordhitze durch den Sommer und den Dezember beschert hat. Viren, Bakterien und Pilzchen mit Resistenzen gegen unsere aktuelle Medizin. Wir gehen geradewegs in die Scheisse. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass wir mit eben diesen selbstmörderischen Trieben in uns in der Lage sein werden, in der sich rasant und wohl nicht zum Guten wandelnden Welt zu überleben.